
Agile Coaching - Der Versuch einer Einordnung
Eine mögliche Begriffsdefinition
Wir Agile Coaches arbeiten in höchst unterschiedlichen Situationen mit unterschiedlichen Ansätzen, Werkzeugen und Praktiken. Dabei stoßen wir auf verschiedenste Herausforderungen und Situationen und bedienen uns dabei der unterschiedlichsten Ideen aus den unterschiedlichsten Quellen. Es wirkt, als ob das Einzige was die Arbeit eines Agile Coaches definiert, die Tatsache ist, dass sie scheinbar nicht definiert werden kann.
Doch gibt es Bestrebungen das Sein und Tun eines Agile Coaches festzuhalten und zu definieren. Beim Scrum Coaching Retreat in Kopenhagen 2017 hat sich zu diesem Zwecke eine Gruppe zusammengefunden, welche ihre Ergebnisse unter www.whatisagilecoaching.org veröffentlicht hat. Dort wird Agile Coaching als Zusammenarbeit mit Menschen und als kreative Reise beschrieben, welche unter Einsatz von Coaching Ansätzen und Agilem Mindset und Prinzipien Individuen, Teams und Organisationen hilft das Beste zu sein, was sie sein können [1].
In der Scrum Alliance gibt es Zertifizierungen für Team- und Enterprise Coaches. Die Unterscheidung zwischen den beiden Rollen liegt zunächst im Scope. Der Team-Coach arbeitet über mehrere Teams, bezieht sich aber, anders als der Enterprise Coach, nur auf eine Teilmenge einer Organisation in einem Projekt oder Programm [2]. Der Team-Coach arbeitet mit Scrum Teams, Stakeholdern und Management, um Performance und Outcome zu verbessern. Als weitere Ziele werden Zusammenarbeit, Konsistenz in der Entwicklung und Werterbringung über ein oder mehrere Teams hinweg genannt [2]. Der Enterprise Coach dagegen führt Organisationen durch die Herausforderungen der Einführung von Agilität und Scrum [3].
Ähnlich sieht es ICAgile. Dort wird zur Einleitung festgehalten: "The Agile Manifesto changed the world", um dann einige Absätze später zu postulieren, dass Agile Coaching andere anleiten soll genau diese Veränderung zu verstehen, zu verarbeiten und anzunehmen [4].
Diese drei Ansätze stehen stellvertretend für die vielen unterschiedlichen globalen Strömungen und Diskussionen rund um das Thema. Sie zeigen wie verschieden die Herangehensweisen sind, den Zweck - im Sinne der Daseinsberechtigung - von Agile Coaching in Worte zu fassen. Bei der Definition der Rollen und Kompetenzen, die ein/e Agile Coach in sich vereint, sind sich die drei dann jedoch überraschenderweise recht einig. Whatisagilecoaching definiert im "Agile Coaching Growth Wheel" 8 Kompetenzfelder, nämlich Facilitate Learning, Advising, Serving the Organisation, Serving the Product Owner, Serving the Teams, Coaching, Facilitating und Agile Lean Practitioner [1]. Die Scrum Alliance nennt sie Coaching, Facilitation, Training, Mentoring, Impediment Management und Leadership [2] und ICAgile zählt die Rollen Facilitator, Professional Coach, Mentor, Teacher und Team Coach [3] zu den Hüten die ein/e Agile Coach trägt. Auch wenn die einzelnen Überschriften und die dahinter liegenden Intentionen sehr unterschiedlich ausgelegt werden können, kann man doch festhalten, dass es einige Überschneidungen gibt und sich alle im Großen und Ganzen einig darüber sind, dass die Rolle Agile Coach über verschiedene Kompetenzfelder definiert werden kann und diese sehr uneinheitlich sind.
Zusammengefasst gibt es also unterschiedliche Ansätze, die versuchen zu erklären, wozu Agile Coaching dienen soll. Alle aufgeführten Ansätze haben die Gemeinsamkeit, Agile Coaching als Sammlung von unterschiedlichen Rollen und Kompetenzfeldern zu sehen.
Doch wirft die Definition des Agile Coaches über unterschiedlichen Rollen mehr Fragen auf, als dass sie einer Klärung dient. So lassen sich etwa aus dieser Definition keine Rückschlüsse auf das Wesen eines Agile Coaches ziehen. Wenn ein/e Agile Coach etwa ein/e TrainerIn ist, ist dann im Umkehrschluss ein/e Agile TrainerIn auch ein/e Agile Coach? Des Weiteren stehen manche der Eigenschaften der Rollen im Widerspruch zueinander.
Es bleibt also weiterhin die Frage offen, wie Agile Coaching definiert werden kann - gibt es etwas Verbindendes und Gemeinsames, das den unterschiedlichen Ansätzen innewohnt? Und was gehört, bei aller Diversität, nicht mehr zu Agile Coaching?
Eine mögliche Einordnung von Agile Coaching
Eine Möglichkeit, sich diesen Fragen anzunähern bietet Ed Schein. Wie er ausführt, lassen sich Beratungsansätze auch über die unterschiedliche Haltung und damit das Beziehungsangebot gegenüber den KundInnen verstehen [5].
Agile Coaching ließe sich unter diesem Gesichtspunkt unseren Beobachtungen zufolge in drei Richtungen denken:
- Coaching im agilen Kontext: z. B. systemisches oder lösungsfokussiertes Coaching. In der Begrifflichkeit von Ed Schein sind das Formen der Prozessbegleitung [5]. Das Wissen um agile Methoden dient hier als "Feldexpertise": Der/die Coach kennt die agilen Begriffe und Konzepte, um in der Kommunikation für die KlientInnen besser anschlussfähig zu sein, nicht aber, um sie zu vermitteln oder zu erklären.
- Fachberatung: Anbieten von Fachexpertise zu agilen Ansätzen, basierend auf Kenntnis und eigener Erfahrung mit diesen Methoden sowie "good practices", wie sie in der agilen Community tradiert werden. In der Begrifflichkeit von Ed Schein geht der/die BeraterIn hier in die Expertenrolle.
- Der/die ÜberexpertIn: In der Typologie von Ed Schein gibt es noch eine dritte Rolle: der "Doktor", der meint besser zu wissen, was die KlientInnen brauchen, als diese selbst in der Lage sind zu erkennen. Der Ratschlag eines Arztes hat hohe Verbindlichkeit: in dem Maße, indem man als KlientIn die Autorität des Arztes anerkennt, wird man den Ratschlag annehmen, auch ohne ihn selbst verstehen oder hinterfragen zu können. Auch diese Rolleninterpretation ist manchmal bei Agile Coaches zu beobachten.
Diese drei Ansätze unterscheiden sich unter anderem maßgeblich dahingehend, welches Beziehungsangebot der/die BeraterIn an den Kunden macht (im systemischen Sinne also welches Berater-Klienten-System angestrebt wird, wie es z. B. Roswita Königswieser beschreibt [6]): Ist das Angebot eine Beratung auf Augenhöhe, wie es bei der Prozessbegleitung (A) der Fall ist, oder eine klare Asymmetrie wie es bei einem Doktor-Patienten (C) Verhältnis üblich ist? Fachexpertise könnte man diesbezüglich irgendwo dazwischen verstehen: Man kann sich unserer Erfahrung nach als FachexpertIn mehr oder weniger auf Augenhöhe mit den KundInnen bewegen. Die Grenze zwischen B und C ist also fließend. Eine klarere Abgrenzung hingegen lässt sich zwischen A und den anderen beiden vornehmen. Prozessbegleitung versteht sich als etwas anderes als Fachberatung oder Arzt-Patienten Beziehungen - sowohl im Sinne von Ed Schein, wie auch im Selbstverständnis zahlreicher Coaching Ausbildungsstätten, z. B. derer, die sich im Austrian Coaching Council (ACC) organisieren.
Ein anderes Unterscheidungsmerkmal ist dabei auch, wie stark jeweils die Selbstermächtigung der KundInnen durch diese Beziehungskonstruktion gefördert oder behindert wird. In einer Arzt-Patienten-Beziehung, so führt Ed Schein trefflich aus, übernimmt der Arzt die Verantwortung für das Wohl des Kunden - eine treffliche Einladung an den Kunden aus der Eigenverantwortung zu gehen. In einem systemischen Coaching hingegen wird typischerweise der/die KundIn als kompetenteste Person zur Findung einer geeigneten Lösung für ihr Anliegen gesehen - eine Einladung zur Selbstverantwortung.
Diese Ansätze sind also in ihrer Grundhaltung durchaus unterschiedlich. So unterschiedlich, dass man auch sagen könnte, sie stehen sehr gut in Spannung zueinander. So sehr, dass man trefflich darüber streiten könnte, was davon der bessere Weg sei. Dem Zweck dieses Positionspapiers folgend, scheint uns jedoch ein anderer Weg sinnvoller, nämlich aufzuzeigen, was für KundInnen hilfreiche Formen von Agile Coaching sein können, und was es braucht, um diese auf professionellem Niveau auszuüben.
Als Werkzeug, diese unterschiedlichen Zugänge unter einen Hut zu bekommen, bietet sich das systemische Tetralemma nach Fritz B. Simon an. Es lässt bei Themen, die zueinander in Spannung stehen, nicht nur das eine oder andere zu. Es stellt vielmehr die Frage, was auch Formen von Beidem sein könnten, also z. B. sinnvolle Kombinationsmöglichkeiten von Prozessbegleitung und Fachexpertentum. Weiters kann man sich fragen: Was sind Formen von "Keines von Beidem" (also quasi was ganz anderes, an das man bisher nicht gedacht hat).
Das könnte folgendermaßen ausschauen:
Die Felder blau, gelb und grün spannen ein Spektrum an sinnvollen Möglichkeiten auf, Agile Coaching zu verstehen. Beratungsansätzen im roten Feld stehen wir hingegen kritisch gegenüber, wenn es um Agile Coaching geht. Das heißt konkret, es kann verschiedene hilfreiche Beratungsformen geben, die jede für sich Berechtigung haben als Agile Coaching verstanden zu werden:
- Fachberatung durch Agile ExpertInnen (gelbes Feld),
- Formen der Prozessbegleitung im agilen Kontext (blaues Feld)
- Bestimmte sinnvolle Kombinationen von Beidem (grünes Feld).
Alles was in Richtung einer Arzt-Patienten-Beziehung geht, und somit die Kompetenz der Klienten abwertet, sehen wir nicht in unserem Beratungsverständnis. Ebenso fällt alles, was einer Ausbildung als Psychotherapeut oder Lebensberater bedarf, nicht in unser Berufsbild des Agile Coaches.